Neue Guillotine sorgt für Zwist mit EU
Die Forderung wirkt hypothetisch, ist aber politisch brisant: Die EU besteht beim Rahmenvertrag auf einer Kündigungsklausel mit Guillotine. Bei einem allfälligen Ausstieg aus diesem müssten die Marktzugangsabkommen ebenfalls wegfallen. Bern hat in den Verhandlungen indes auch einiges erreicht.

Zwischen der Schweiz und der EU gibt es bereits mehrere Streitpunkte. Nun kommt eine weitere Differenz hinzu. (Bild: Sigi Tischler / Keystone)
Die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU drohen an mehreren Streitpunkten zu scheitern. Wegen des gewerkschaftlichen Widerstands lehnt der Bundesrat bei den flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit Zugeständnisse ab. Die von Brüssel verlangte Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie betrifft ebenfalls brisante Fragen wie Ausschaffungen. Und nun kommt eine weitere Differenz hinzu, wie mehrere Quellen der NZZ bestätigen.
Gemäss einem Papier des Aussendepartements (EDA) besteht die EU auf einer Kündigungsklausel mit Guillotine. Demnach müssten bei einem Ausstieg aus einem Rahmenvertrag auch alle diesem unterstellten Abkommen automatisch wegfallen. Konkret betroffen wären fünf bestehende Marktzugangsverträge der Bilateralen I (Personenverkehr, Landwirtschaft, Land- und Luftverkehr und technische Handelshemmnisse) sowie das geplante Stromabkommen.
Die Schweiz hat die Kündigungsklausel in dieser Form bis anhin abgelehnt. Namentlich der Einbezug der bestehenden Marktzugangsverträge kommt für sie nicht infrage. Beim Stromabkommen wäre dagegen eine Lösung möglich, da dieses ohnehin mit dem Rahmenvertrag verknüpft ist. Die Brüsseler Forderung war vor kurzem auch ein Thema bei den Von-Wattenwyl-Gesprächen zwischen dem Bundesrat und den Regierungsparteien – und sorgte dem Vernehmen nach für Irritationen.
Für die EU ist eine derartige Klausel dagegen logisch. Bereits seit zehn Jahren kämpft sie dafür, die bilateralen Beziehungen mit dem institutionellen Vertrag auf eine neue Basis zu stellen. Und will deshalb das Risiko vermeiden, auf den Status quo zurückzufallen. In Brüssel heisst es, dass zu den Auswirkungen einer allfälligen Kündigung des Abkommens noch kein Einvernehmen bestehe. Trotz Fortschritten gebe es Differenzen, sagt auch ein Sprecher des EDA. In den Verhandlungen gelte das Prinzip, dass es zu keinem Abschluss komme, bis sich die Beteiligten in allen Kapiteln geeinigt hätten.
Vier statt acht Tage
Die Diskussion über die Kündigungsklausel ist theoretischer Natur. Zuerst müsste die Schweiz mit der EU einen Rahmenvertrag abschliessen – und später entscheiden, diesen wieder zu kündigen. Die verbleibenden Differenzen, die einer Einigung im Wege stehen, sind gewichtiger. Dennoch wäre eine neue Guillotine für die innenpolitische Debatte Gift. Zwar gibt es bereits eine bestehende Klausel (Verknüpfung der Bilateralen I), die eine starke Drohkulisse ist. Kündigt die Schweiz eines der sieben Abkommen, fallen automatisch auch alle anderen dahin.
Mit dem Rahmenvertrag war jedoch die Hoffnung verbunden, dass sich die Guillotine künftig erübrigen könnte. Differenzen zwischen Bern und Brüssel sollen in geordnete Bahnen gelenkt werden, indem im Streitfall neu ein Schiedsgericht entscheidet. Hält sich eine Partei nicht an dessen Entscheide, müsste sie Ausgleichsmassnahmen akzeptieren; ein Schiedsgericht würde wiederum deren Verhältnismässigkeit beurteilen. Ob die Verknüpfung mehrerer Abkommen dieses Kriterium erfüllt, wäre zumindest fraglich. Eine Abschaffung der Guillotineklausel wäre ein innenpolitisches Verkaufsargument für ein Rahmenabkommen. Die Schweiz hat jedoch darauf verzichtet, dies explizit zu fordern, wie Aussenminister Ignazio Cassis im März vor den Medien sagte. Am Prinzip, dass der sektorielle Zugang zum Binnenmarkt nur mit der Personenfreizügigkeit möglich ist, hält die EU ohnehin fest.
Trotz gewichtigen Differenzen haben sich die zwei Parteien aber auch angenähert. Recherchen zeigen, dass Bern Brüssel in anderen Bereichen Konzessionen abringen konnte. Zwar beharrt die EU darauf, dass die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie übernimmt, wobei gewisse Ausnahmen denkbar wären.
Bei den flankierenden Massnahmen hatte sie anfangs darauf gepocht, dass die Schweiz die achttägige Voranmeldefrist für europäische Dienstleister abschaffe und das EU-Entsenderecht eins zu eins übernehme. Nun aber anerkennt Brüssel eine Sonderstellung der Schweiz, da Dienstleister aus der Union hierzulande nur bis zu 90 Tage pro Jahr tätig sein dürfen. Dies rechtfertigt einen strengeren Lohnschutz als in EU-Ländern. Konkret will Brüssel Bern offenbar die Möglichkeit einer Kautionspflicht und eine viertägige Voranmeldefrist zugestehen, wobei die Schweiz begründen müsste, in welchen Regionen und Branchen das Missbrauchsrisiko erhöht ist. Die Risikoanalyse müsste periodisch wiederholt und ihre Verhältnismässigkeit könnte beim geplanten Schiedsgericht angefochten werden. Im Kern aber wäre die Sonderlösung abgesichert und könnte vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht umgestossen werden.
Zugeständnisse an Bern
Zudem hatte die EU die Kohäsionsmilliarde, mit der Bern ärmere Mitgliedstaaten im Osten unterstützt, als Pflicht ins Rahmenabkommen aufnehmen wollen. Nun soll es bei einem unverbindlichen Verweis in der Präambel bleiben. Bei den Staatsbeihilfe-Regeln sollen die Details sektoriell statt im Rahmenvertrag geregelt werden. Auch den Einbezug des Freihandelsabkommens (FHA) konnte die Schweiz abwenden. Bern soll sich aber verpflichten, bis Ende 2020 Vorbereitungen für Verhandlungen über eine Erneuerung abzuschliessen. Erst wenn diese tatsächlich einmal abgeschlossen wären, fiele ein neues FHA unter den Rahmenvertrag.
Als Konzession wird in Brüssel das Modell mit drei Schiedsrichtern für die Streitschlichtung verkauft, das die EU als Alternative für das EuGH-Modell ins Spiel gebracht hat. Ein ähnliches Modell mit fünf Schiedsrichtern ist auch Teil des Austrittsabkommens, auf das sich London und Brüssel provisorisch geeinigt haben. Geplant ist, dass bei Uneinigkeiten über den Brexit-Vertrag ein gemischter Ausschuss aus Vertretern der zwei Parteien eine Lösung sucht. Gelingt das nicht, wird das Schiedsgericht eingesetzt. Betrifft der Streit EU-Recht, müsste jenes die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigen oder ihn um einen bindenden Entscheid ersuchen. Andernfalls entscheiden die Schiedsrichter autonom. Das Schiedsgericht muss den EuGH auch dann nicht einschalten, wenn eine der beiden Seiten dies explizit verlangt, solange es eine Begründung vorlegt.
Seitens der Kommission, aber auch der Mitgliedsstaaten heisst es, der Verhandlungsspielraum sei ausgeschöpft. Die EU erwartet, dass der Bundesrat bald zum Ergebnis Stellung bezieht – und hofft noch immer, dass es im Dezember zu einem Verhandlungsabschluss kommt. Die Landesregierung dürfte sich in einer der kommenden Sitzungen mit dem Rahmenabkommen befassen. Sie hat die roten Linien ihres Mandats jedoch wiederholt bekräftigt, zuletzt im September und namentlich bei den flankierenden Massnahmen. Vor diesem Hintergrund bleibt eine Einigung mit der EU schwierig.