Boeing 737 Max: Das steckt hinter der Sicherheitsanweisung

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FrankfurtWas am 29. Oktober über der Java-See passierte, ist unvorstellbar und noch unerklärbar. Wenige Minuten nach dem Start in Jakarta stürzt eine gerade einmal gut zwei Monate alte Boeing 737 Max bei klaren Sichtverhältnissen und gutem Wetter mit hoher Geschwindigkeit ins Meer und reißt 189 Menschen in den Tod. Ein verstörendes und irritierendes Ereignis, für das es auf den ersten Blick nur eine Erklärung zu geben scheint: ein schwerer technischer Defekt an dem fast noch werksneuen Jet.

Und so ist es nicht überraschend, dass eine Sicherheitsanweisung, die der US-Flugzeughersteller Boeing nun für diesen Flugzeugtyp herausgegeben hat, für Unruhe in der Branche sorgt. Hat die Neuauflage des beliebten Jets, auf den Airlines wie Sunexpress warten oder der bei Tui schon im Einsatz ist, einen schwerwiegenden konstruktiven Mangel, der fast 190 Menschen das Leben kostete?

Verhaltensregeln wie seit Jahrzehnten üblich

So verständlich die Aufregung ist, wer sich die Details des Boeing-Bulletins anschaut, stellt fest: Es weist die Piloten im Wesentlichen auf Verhaltensregeln hin, wie sie bereits seit vielen Jahrzehnten formuliert sind – auch für die Boeing 737 in der klassischen Ausführung, die tausendfach seit Langem unterwegs sind.

Allein aus dem Bulletin einen grundsätzlichen Konstruktionsfehler der Boeing 737 Max abzuleiten, die unter anderem von besonders spritsparenden Motoren angetrieben wird, ist so vorschnell wie falsch.

Das sind die Details: Boeing reagiert mit dem Bulletin auf erste Ergebnisse, die die Auswertung des mittlerweile geborgenen Flugschreibers von Lion-Air-Flug JT-610 ergeben haben. Danach litt der Jet schon seit mehreren Flügen unter einem fehlerhaften sogenannten AOA-Sensor. AOA steht für „angle of attack“ und beschreibt den Anstellwinkel, den ein Flugzeug beim Starten einnimmt. Ist dieser zu steil, droht ein Strömungsabriss an den Flügeln, das Flugzeug würde unkontrollierbar werden.

Eine Überwachung dieses Winkels ist deshalb so wichtig, weil der Jet beim Starten mit einer recht langsamen Geschwindigkeit fliegt, die Motoren aber gleichzeitig mit vollem Schub arbeiten. Das birgt die Gefahr, dass das Flugzeug zu steil aufsteigt.

Die 737 Max hat grundsätzlich deutlich mehr Informationstechnik an Bord als die bisherigen 737-Modelle. Vor allem kommt hier ein sogenanntes Fly-by-Wire-System zum Einsatz. Der Jet wird dabei über den Computer gesteuert, der Flugzeugführer erteilt etwa über den Steuerknüppel einen Befehl an den Rechner, der übernimmt dann die Steuerung der hydraulischen Systeme. Bei älteren Flugzeugen werden die hydraulischen Systeme dagegen direkt vom Piloten bedient.

Allerdings hat der Einsatz dieses Fly-by-Wire-Systems keine Änderungen bei dem nun in Verdacht stehenden AOA-Sensor zur Folge gehabt. Der schickt seine Informationen über den Anstellwinkel wie schon immer zum einen zu einer Anzeige für den Piloten, zum anderen direkt in die Steuerungssysteme des Flugzeugs.

Automatische Funktionen können deaktiviert werden

Das hat folgenden Hintergrund: Beim Start wird das Flugzeug in den meisten Fällen manuell gesteuert. Stellt der AOA-Sensor einen zu hohen Anstellwinkel fest und merkt, dass der Pilot nicht entsprechend reagiert, korrigiert das Steuerungssystem die Ausrichtung automatisch, indem es die Nase des Flugzeugs leicht absenkt, also die sogenannte Trimmung anpasst. Das geschieht für zehn Sekunden. Ist der Flugzeugführer nun etwa aufgrund anderer Instrumentendaten der Meinung, der AOA-Sensor arbeitet mit fehlerhaften Daten, kann der Pilot die automatisch erfolgte Korrektur des Anstellwinkels manuell rückgängig machen.

Stellt das System danach immer noch einen zu steilen Anstellwinkel fest, wird es nach kurzer Zeit erneut die Nase automatisch absenken. Ohne weiteren Eingriff würde sich dieses „Spiel“ ständig wiederholen. Das könne es den Piloten erschweren, das Flugzeug zu steuern, und zu einem Verlust an Höhe führen, heißt es in dem Bulletin von Boeing.

Deshalb sieht das Manual für diesen Fall vor, dass der Flugzeugführer die „Autopilot Stab Trim Funktion“ ausschaltet, also die automatische Trim-Korrektur lahmlegt. Über das Trimrad muss der Jet dann manuell ausgerichtet werden. Genau an diese seit vielen Jahren existierende Prozedur hat Boeing im aktuellen Bulletin noch einmal erinnert.

Was bedeutet das nun für den Absturz der Lion-Air-Maschine? Bjorn Fehrm von Informationsdienst Leeham geht davon aus, dass die Crew an Bord von JT 610 deutlich mehr Fehlermeldungen erhalten haben muss. Ein Fehler im AOA-Sensor werde weltweit von den Piloten wieder und wieder simuliert, die passende Reaktion sei eigentlich keine große Sache, schreibt er in einem Report. Nur weitere Fehlermeldungen könnten einen so großen Stress im Cockpit ausgelöst haben, dass das Flugzeug schließlich abstürzte.

Tatsächlich gibt es bei Flug JT 610 auch Hinweise darauf, dass die Geschwindigkeitsanzeige auf der Kapitänsseite bei vorhergehenden Flügen inkorrekt arbeitete. Sie wiederum hängt eng mit dem AOA-Sensor zusammen.

„Wir müssen verstehen, mit was genau die Crew konfrontiert wurde und was ihre Reaktion darauf war“, warnt Fehrm vor übereilten Schlüssen über technische Fehler bei der 737 Max. Das AOA-System selbst sei jedenfalls häufig und weithin getestet worden.

Ein hartnäckiger Fehler?

Was sich tatsächlich im Cockpit abspielte, werden wir aber wohl erst wissen, wenn auch der Stimmrekorder geborgen und ausgewertet worden ist. Offen ist auch noch eine andere Frage: Wenn die Fehlermeldungen schon bei den vier Flügen zuvor aufgetaucht waren und die Sensoren angeblich vor dem Unglücksflug getauscht wurden – warum tauchte der Fehler erneut auf? Und warum hob die Maschine ab, obwohl es sich offensichtlich um einen sehr hartnäckigen Fehler handelte?

Andere Airlines jedenfalls, die die 737 Max schon einige Monate im Einsatz haben, meldeten bislang keine Probleme mit dem nagelneuen Jet. So bestätigt der Billiganbieter Norwegian, dass die 737 Max diesbezüglich bislang unauffällig sei. Auch bei Tui ist man zufrieden mit den bisher erhaltenen fünf Flugzeugen. Probleme gebe es keine, und die Spritersparnis sei sogar noch etwas größer als vom Hersteller versprochen. Was die Lieferung weiterer 737 Max angehe, sei man deshalb auch zunächst nicht beunruhigt. Aber man habe das Bulletin von Boeing erhalten und die Piloten informiert, erklärte ein Sprecher.

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